Bereits zum zweiten Mal durfte ich die Laudatio zur Eröffnung der Frankfurter Gutleuttage halten. Hier mein Beitrag im Wortlaut:
Sehr geehrte Schirmherrin Dr. Hartwig,
Liebe Gastgeberin Manuela Mock,
Liebe Organisatoren Nadine Tannreuther und Yasar Honneth,
Liebe Frankfurterinnen und Frankfurter, geschätzte Gäste,
heute versammeln wir uns an einem Ort, der tief in der Geschichte Frankfurts verwurzelt ist, um das Jubiläum der Gutleuttage zu feiern. Dieses Viertel erzählt eine Geschichte von Menschlichkeit, Fortschritt und Gemeinschaft, die sich über Jahrhunderte erstreckt.
Das Gutleutviertel, wo sich einst der „Hof der guten Leute“ befand, bietet uns eine lebendige Erinnerung an eine Zeit, in der Aussätzige, die an Lepra litten, nicht nur gepflegt, sondern als Teil der Gemeinschaft anerkannt wurden. In dieser Gemeinschaft stand der Mensch im Mittelpunkt, und dieses Erbe lebt auch heute noch in uns weiter.
Das Areal hat sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Von dieser frühmittelalterlichen Zuflucht aus entwickelte sich das Viertel kontinuierlich weiter und wurde Zeuge von Frankfurts rasanter Urbanisierung und technologischer Entwicklung. Im Jahr 1894 wurde hier die Städtische Elektrizitätscentrale errichtet, eines der ersten Dampfkraftwerke in Deutschland. Dieses Heizkraftwerk West symbolisierte den technologischen Fortschritt der Stadt. Mit den im Jahr 1989 fertiggestellten Blöcken 2 und 3 sowie dem 1994 hinzugefügten Block 4 mit Erdgasfeuerung bildet es bis heute das Rückgrat der Frankfurter Strom- und Fernwärmeversorgung.
Es ist faszinierend, dass trotz technologischer Fortschritte und der modernen Infrastruktur der direkte Bezug zum Main erhalten blieb. Wie einst das Wasser des Flusses die Felder des Gutshofs nährte, versorgt es heute das Kraftwerk über eine eigene Anlegestelle, an der Schiffe mit Kohle anlegen. Ein besonderes Merkmal dieses Knotenpunkts der Energieversorgung ist der Kran mit seiner archimedischen Schraube, der die Kohle aus den Schiffen befördert – ein technologisches Meisterwerk, das die Kohle durch die Bürogebäude des Westhafen Piers ins Kraftwerk leitet.
Der Westhafen stellt in vielerlei Hinsicht ein Symbol für die vielschichtige Identität des Gutleutviertels dar.
Doch in den letzten Jahren hat der Westhafen eine beeindruckende Transformation durchgemacht. Neben den industriellen Einrichtungen sind luxuriöse Wohnkomplexe, Bürogebäude und Freizeitmöglichkeiten entstanden. Diese Veränderung spiegelt einen sozialen Wandel wider, der auch in anderen Teilen Frankfurts zu beobachten ist. Der Westhafen ist somit ein Mikrokosmos der sozialen Dynamik der Stadt, ein Ort, an dem das Erbe der Arbeiterklasse neben den Ambitionen der neuen städtischen Elite existiert.
Dieses Nebeneinander von Alt und Neu, von Industrie und Luxus bringt unweigerlich soziale Kontraste zum Vorschein. Im Gutleutviertel sind diese Gegensätze besonders auffällig. Während einige Bereiche des Viertels von Gentrifizierung und steigenden Lebenshaltungskosten geprägt sind, gibt es immer noch Ecken, in denen benachteiligte Bevölkerungsgruppen und soziale Einrichtungen, die an die humanitäre Tradition des Viertels anknüpfen, ihren Platz finden.
Das Herz eines Viertels waren aber immer seine Menschen und sind es auch heute noch. In dieser Hinsicht war das Gutleutviertel immer gesegnet, insbesondere durch Menschen wie Pfarrer Martin Jürges. Sein unermüdlicher Einsatz sowohl als evangelischer Stadtjugendpfarrer als auch als Pfarrer der Gutleutgemeinde hat vielen das Gefühl gegeben, gehört und gesehen zu werden. Seine Hingabe an benachteiligte Menschen und sein Engagement als Friedenskämpfer sind Inspirationsquellen für uns alle.
Ein ganz anderer, aber ebenso strahlender Stern in unserer Gemeinde ist Manuela Mock. In ihrer Boutique „Transnormal“ findet diese Eröffnung statt. Vielen Dank, dass wir diese Räume heute nutzen dürfen. Diese Boutique steht für eine progressiv-innovative Auffassung von Mode und Identität und bietet einen sicheren Raum für jene, die auf der Suche nach einem einzigartigen, aber dennoch persönlichen Stil sind. Es ist die „Damenboutique für den Herren,“ ein Konzept, das die traditionellen Grenzen von Geschlecht und Ausdruck mutig hinterfragt.
Das Engagement von Manuela Mock und ihrer Boutique geht jedoch weit über den Verkauf von Kleidung hinaus. „Transnormal“ ist nicht nur ein Geschäft, sondern auch ein sozialer Treffpunkt, ein Ort des Dialogs und der Gemeinschaft. Es symbolisiert die Diversität und Offenheit, die das Gutleutviertel ausmachen. Manuela Mock trägt damit zur kulturellen Vielfalt des Viertels bei und spiegelt dessen soziale Komplexität wider. In einer Gegend, in der so viele unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinandertreffen, steht „Transnormal“ für die Möglichkeit, sich jenseits der gesellschaftlichen Normen frei zu entfalten. Manuela Mock und ihr Geschäft sind somit ein wichtiger Teil des vielfältigen sozialen und kulturellen Gefüges, das das Gutleutviertel zu einem der interessantesten und dynamischsten Teile Frankfurts macht.
Ein besonderer Dank geht an Nadine Tannreuther und Yasar Honneth. Ohne ihre harte Arbeit und ihr Engagement wäre dieses Jubiläum nicht möglich gewesen. Ihre Bemühungen spiegeln das wider, was die Gutleuttage so besonders macht: Gemeinschaft, Zusammenarbeit und das Bestreben, das Beste aus unserem Viertel herauszuholen. Bereits zum 10ten Mal organisieren die beiden für uns die Gutleuttage. Das ist doch einen besonderen Applaus wert.
2016 und 2017 fanden die Gutleuttage noch zweimal pro Jahr, aus organisatorischen Gründen ab 2018 nur noch einmal pro Jahr. Diese zehn Veranstaltungen waren reich an Höhepunkten. Unvergessen ist der Besuch mit 10 Seniorinnen und Senioren aus dem betreuten Wohnen der AWO im Tanzhaus, um zu sehen, was die Jugend so macht. Aber auch leergetrunkene Kühlschränke im Orange Beach und junge Damen, die vom gegenüberliegenden Mainufer spontan zu den Gutleuttatgen herüberschwommen sind, hat es schon gegeben.
Auch die Gutleuttage blieben 2020 und 2021 nicht von den Coronmaßnahmen verschont. Sie erinnern sich: “Halten Sie Abstand und unterstützen Sie die Coronamaßnahmen unserer Bundesregierung”. Nur unter strengen Auflagen konnte das Fest in abgespeckter Form stattfinden. Dafür gab es ein Feuerwerk.
Seit dem vergangenen Jahr ist die Veranstaltung mit einem neuen Konzept auf zwei Tage komprimiert.
Auch dieses Jahr erwartet uns ein bunter Reigen an Veranstaltungen. Von Rhetorik bis Bestattungshaus, von Weinverkostung bis Fototour, von Briefverteilung bs Stromerzeugung, von Geschichtsführung bis Spaziergang der sieben Sinne, von Wasserspielen bis Hafenrundgang – es ist für jeden und jede etwas dabei.
Ich denke an die Worte aus meiner Rede von 2022 zurück, in denen ich betonte, dass Frankfurt eine ästhetische Stadt mit einer Vision für die Zukunft ist. Unsere Stadt ist ein Amalgam aus Geschichte und Modernität, aus Kultur und Technologie und auch aus Armut und Überfluss. Aber vor allem ist sie ein Ort des menschlichen Geistes, der Entschlossenheit und der Gemeinschaft.
Lassen Sie uns dieses Jubiläum der Gutleuttage als Chance nutzen, uns wieder mit unseren Wurzeln zu verbinden, unsere Errungenschaften zu feiern und uns gemeinsam auf die Zukunft zu freuen. Wir sind Frankfurt. Wir sind das Gutleutviertel.
Ich danke Ihnen allen und wünsche Ihnen zwei interessante und vergnügliche Tage.